Die Geschichte von Rosalia

Der Frühling auf Ikaria ist ein Traum – die Insel strahlt wie ein Smaragd in verschiedenen Grünschattierungen, das Meer wellt im Wind in Tiefblau und der wilde Ginster setzt leuchtende gelbe Akzente. Sonne und Wolken wechseln sich ab und halten so die Szenerie in Bewegung.

Vereinzelt sind schon die ersten Touristen zu entdecken, die Saison hat jedoch noch nicht begonnen und so bleibt viel Zeit für gegenseitige Besuche, bei denen wir erfahren, was sich im Winter auf der Insel so zugetragen hat. Der heftige Sturm, der mit einer Tsunami-Welle den Hafendamm eingedrückt hat, wer gestorben ist und wer sich neu verliebt hat – Klatsch & Tratsch vom Feinsten!

Eine Geschichte ist die letzten Tage immer wieder aufgetaucht und hat mich besonders berührt, deshalb möchte ich sie euch heute erzählen – es ist die Geschichte von Rosalia.

Rosalia ist wohl um die 80 herum, so genau weiß es keiner und es ist noch gar nicht lange her, dass sie vom Festland aus zu ihrem Bruder und seiner Familie nach Ikaria umgezogen ist. Sie lebt in einer eigenen kleinen Wohnung, die sie jedoch kaum benutzt, denn Rosalia hat Hummeln im Hintern und ist den ganzen Tag im Dorf unterwegs, um selbstgestrickte Wollschals zu verkaufen. Zumindest versucht sie das mit viel Hartnäckigkeit, auch mitten im Hochsommer, und sie weiß genau, wer schon mal gekauft hat und wer nicht, wer sie vertröstet und wer ihr wohlgesonnen ist. Ihre Schwägerin zum Beispiel ist ihr sehr wohlgesonnen und kaufte eines Tages alle Schals auf einen Schlag auf! Doch Rosalia ist clever – sie fand die gut versteckten Schals und verkauft sie nun aufs Neue. Warum sie das macht? Nun, offensichtlich hat Rosalia schwere Zeiten erlebt und macht sich große Sorgen, wie sie die Stromrechnung bezahlen soll. Wer die griechische Stromgesellschaft kennt, kann ihre Sorgen nachfühlen…

Rosalia ist also ein Unikum im Dorf geworden, das alle kennen. Sie scherzen mit ihr und lachen über sie – doch nie bösartig und sie sorgen für sie. So hat ein Herr, der zwar keinen Schal kaufen wollte, Rosalie mit in den Supermarkt genommen, sie kaufte auf seine Rechnung alles, was ihr Herz begehrte und er trug ihr auch noch die Tüten nach Hause. Und was tat Rosalia? Da sie den Kühlschrank aus Sparsamkeitsgründen nicht benutzt, wäre ja alles verdorben und so ging sie los und verteilte alles an andere Menschen im Dorf, von denen sie meint, dass sie es brauchen können.

Ganz offensichtlich sind Rosalias Existenzängste unbegründet, doch sie treiben sie um. Manche sagen, sie sei verrückt, andere widersprechen dem vehement. Vielleicht ist sie dement? Der Verdacht ist nahe liegend, doch ich kann es nicht sagen – denn obwohl ich die letzten Tage immer wieder Ausschau nach Rosalia gehalten habe, wenn ich unten im Dorf war, bin ich ihr bisher leider noch nicht persönlich begegnet.

Was mich an dieser Geschichte so berührt hat, ist die Art und Weise, wie diese „verrückte Alte“ vom Dorf nicht nur akzeptiert, sondern auch integriert wird. Und umgekehrt – denn Rosalie ist über alles bestens informiert und nimmt auf ihre Weise Anteil. Wo gibt es das in unserer modernen Gesellschaft noch? Hier ist das alt werden noch kein Abschiebegrund aus der Gesellschaft, sondern ein Teil vom Leben – ist das nicht wunderbar?

„Pare, pare!“ preist Rosalia ihre Schals an „Nimm einen, nimm einen!“ Jemand gab ihr den Rat, die Menschen doch nicht so zu drängen und so sagt sie jetzt „Nimm einen! Nimm einen! Aber ich will dich nicht drängen, nur wenn du willst…also, nimm einen!“ Und das werde ich gerne tun, wenn ich sie die nächsten Tage doch noch treffen sollte.

Herzliche Grüße aus der Ägäis,

Barbara

 

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