Warten auf Afantos

Es ist ein wunderschöner Dienstagmorgen im August – die Sonne scheint und das Meer funkelt einladend aus der Ferne. Ein Tag, wie geschaffen, um ihn unter dem Sonnenschirm am Strand zu verbringen…

Doch halt, wir haben eine Verabredung mit Afantos! Gegen Mittag will er anrufen, um uns zu informieren, ob er am Abend vorbeikommen wird, um die neue Batterie an unsere Solaranlage anzuschließen. Das hat Priorität! Obwohl wir es ja besser wissen sollten…

Afantos ist Elektrologe, ein Meister seines Fachs! Er war einige Jahre auf großen Fracht-Schiffen unterwegs, er kennt die Welt, weiß viel und hat immer eine Lösung parat. Vor allem jedoch ist Afantos ein Ikarer durch und durch und ein Parade Beispiel dafür, wie die Zeit hier tickt…

Seit wir vor einigen Jahren auf Solar-Energie umgestiegen sind, löst er nicht nur unsere elektronischen Probleme, sondern ist auch mein Guru des lokalen „Zeit-Management“ geworden:
vom ersten Anruf bei ihm bis zum Zeitpunkt, an dem er tatsächlich erscheint, vergehen selbstverständlich diverse Tage, manchmal Wochen. Er kommt immer dann, wenn man gerade jede Hoffnung aufgegeben hat – und, er erscheint selten vor Sonnenuntergang, eher später, wenn es schon dunkel ist, so gegen 22 Uhr etwa… kein Problem für unseren Afantos, er packt beeindruckende Taschenlampen aus, klettert aufs Dach und macht sich ans Werk. Mein Mann klettert mit, denn Gesellschaft muss sein, während ich unten einen kleinen Imbiss vorbereite: nach getaner Arbeit, so gebietet es die Höflichkeit, gibt es ein Glas Wein und eine Kleinigkeit zu Essen. Wir unterhalten uns dabei bestens über dies & das, bis Afantos sich spät in der Nacht verabschiedet, weil er im nächsten Dorf noch einen Kühlschrank reparieren muss…

Ich gebe zu, dass ich anfangs öfters versucht habe, ihn zu bestechen, umgehend & sofort zu kommen, mit Lindt Osterhasen zum Beispiel! So wie damals, als kurz vor Ostern plötzlich der Strom weg und der Kühlschrank voll war …  Der Osterhase ist gut angekommen und seitdem eine Tradition für Afantos geworden, der sich jedes Jahr darüber freut, doch an seinem Zeit-Management hat das rein gar nichts geändert. Denn für die Ikarer ist Zeit nichts, was man gewinnen muss, um noch mehr erledigen zu können. Zeit ist dazu da, um sie mit anderen zu verbringen und darin liegt der Gewinn.

Es kursieren hier unzählige solcher Geschichten wie die von Afantos und böse Zungen behaupten, die Ikarer seien einfach faul. Das kann jedoch nicht der Grund für diesen lässigen Umgang mit der Zeit sein, wie die unzähligen alten Mauern auf der ganzen Insel bis hoch auf die Berggipfel zeigen, die die Felder terrassieren und Wildziegen in Schach hielten – diese Mauern sind monumental und gibt es so auf keiner anderen Insel.

Möglicherweise hängt es mit der Geschichte der Insel zusammen? Die war wechselhaft! Ein Beispiel: um das 15. Jahrhundert herum nahm die Piraterie in der Ägäis stark zu und die Genuesen, die Ikaria damals als einen Außenposten ihres Hoheitsgebiets beherrschten, zogen sich von der Insel zurück. Ein Teil der Inselbewohner ging mit ihnen und die, die zurückgeblieben sind, versteckten sich in einem Bergtal und lebten dort unentdeckt für 200 Jahre, bis sie wieder die ganze Insel besiedelten. Überlebt haben sie diese Zeit, weil einer dem anderen geholfen hat. So hatte die Lohnarbeit nie die Bedeutung wie anderswo, denn hier tauschte man Arbeitskraft gegen Arbeitskraft und Wissen gegen Wissen aus. Natürlich ist das heute nicht mehr so, auch Ikaria ist in der Moderne angekommen, doch die relative Bescheidenheit des Lebensstils, die daraus hervorgegangen ist, die ist geblieben.

Heute haben wir übrigens Freitag und natürlich ist Afantos noch nicht hier gewesen, um die Batterie anzuschließen. Er mag es durchaus vorgehabt haben, gleich am Dienstag zu kommen, doch wer weiß, wem er auf dem Weg zu uns begegnet ist und was sich daraus ergeben hat? Auch das gehört hier dazu – die Flexibilität dem Leben zu begegnen und es zu leben, wie es kommt, anstatt lange „to-do-Listen“ zu erstellen und diese Punkt für Punkt abzuarbeiten.

Ja, sicher – mich mit meinem deutschen Background nervt das alles manchmal total. Doch es hilft ja nichts, ich kann es sowieso nicht ändern und deshalb werde ich gleich mal die Badesachen einpacken, um an den Strand zu fahren und lache derweil still in mich hinein, denn es gefällt mir doch eigentlich sehr gut so, wie es ist! Spätestens, wenn ich zurück in Deutschlang bin merke ich dann, wie sehr ich hier „entschleunigt“  habe!

Unser Afantos heißt im wirklichen Leben natürlich anders, den Namen habe ich aus Personenschutzgründen geändert. Doch wir haben ihm davon erzählt und er hat sich bestens darüber amüsiert, dass er in meiner Geschichte  „der Unsichtbare“ heißt. Denn Sinn für Humor und ein großes Herz gedeihen hier auf der Insel ebenfalls sehr gut!

In diesem Sinne wünsche ich allen ein „entschleunigtes“ Wochenende ?

Barbara

Nicht verpassen: nächste Woche geht es um die LEBENSFREUDE!

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