Sturmhöhe

Heute liegt das ikarische Meer glatt wie ein Spiegel und im Sonnenlicht funkelnd vor mir. Es duftet nach Frühling, die Berge sind mit wildem blühendem Gingster gelb gesprenkelt soweit das Auge reicht. Ich sitze in T-Shirt, Shorts und Flipflops und ohne Jacke! unter dem Feigenbaum und genieße den ersten Cafe Frappe der Saison, während Schmetterlinge um mich herumtanzen. Frühling pur!

Genau vor einer Woche sah das ganz anders aus. Eingemummelt in dickem Fleece und warme Socken an den Füßen, schaute ich zaghaft zum Fenster hinaus und konnte nicht mal den Horizont erkennen, so dicht fiel der Regen aus dicken, wild über den Himmel jagenden Wolken. Wir hatten Sturm. Wind und Sturm gehören auf Ikaria durchaus zum Leben dazu. So wie die Eskimos angeblich 100 verschiedene Worte für Schnee haben, so gibt es auch hier für jeden der vielen Winde einen ganz eigenen Namen und Geschichten, die sich darum ranken. Der Sturm vor einer Woche hatte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 117 km/h, das liegt so um die Windstärke 10 und gilt damit als Orkan.  Mein erster Orkan!

Dass sich die zunehmenden Windböen aus Süd/Süd West zu einem Orkan auswachsen würden, den es so seit 1913 nicht mehr gegeben hat, wissen wir jedoch noch nicht, als wir zu Beginn des Spektakels alles was nicht niet und nagelfest ist ins Haus bringen.  Darin haben wir nach all den Jahren auf unserem Hügel Übung. Hier scheinen die ikarischen Winde nämlich ihr Headquarter eingerichtet zu haben. Dennoch atmen wir erst einmal erleichtert durch, dass wir es rechtzeitig geschafft haben, zünden ein Feuer im Kamin an und kochen eine große Kanne Tee.  Inzwischen prasselt der Regen waagrecht gegen die Fenster, während der Wind in den verschiedensten Tonlagen brüllt, zischt, spukt und die Fensterläden fast fröhlich pfeifend heftig zum Klappern bringt. Eine unglaubliche Vielfalt noch nie gehörter Windstimmlagen! Manche fast menschlich…spuky!  Auf der Dachterrasse tanzt eine vergessene Sonnenliege Chachacha dazu. Keine Chance, da jetzt noch hinauf zu klettern. Der alte Mandelbaum vor der Tür ächzt und bricht zur Seitein Zeitlupe zur Seite.

Südwind macht Kopfschmerzen und legt die Nerven blank sagen sie hier auf der Insel.  Jede neue Böe schien das ganze Haus zu erschüttern und unsere Nerven ebenso: „Was machst du denn überall die Lichter an? Hast du überhaupt mal gecheckt, wie voll die Solarbatterien noch sind?“ nörgele ich an meinen Mann herum, der sich derweil darüber aufregt, dass ich mein Handy nicht aus der Hand lege, um selbst die Batterien zu checken, dabei suche ich ja nur eine Ecke mit funktionierendem WLan, um den Wetterbericht zu finden… und so gibt ein Wort das andere, bis wir mitten in einem handfesten und vollkommen überflüssigen Krach stecken. Das Klingeln seines Handys unterbricht uns und wir schauen uns ganz erstaunt an: die Welt außerhalb unseres privaten Orkan-Kosmos existiert noch!

Während er mit einem Freund die Sturmlage am Telefon diskutiert, setze ich mich vor den Kamin und schaue ins Feuer. „Ihr Menschen seid ständig am Rennen, machen und tun“ flüstert mir der Feuerdrache zu „Du zerbrichst dir auch immer wieder den Kopf über dies und das und bist nie wirklich zufrieden mit dem, was du hast. Dauernd machst du dir viel zu viele Sorgen um das Morgen“ Hmmm. Ich lege ein Holzscheit nach, das zischend aufflackert und komme mir in diesem gewaltigen Schauspiel, das die Natur gerade bietet, plötzlich sehr sehr klein vor. Eine Unterhaltung, die ich letzten Herbst unten im Dorf beim Einkaufen mitgehört hatte, kommt mir wieder einmal in den Sinn:  in der wartenden Kassenschlange vor mir unterhalten sich eine junge Frau und ein alter Herr, die sich offensichtlich kennen, doch länger nicht gesehen haben. Nach einer Weile kommen sie beim Wetter, dem ausbleibenden Regen und dem anhaltenden Wassermangel auf der Insel an. „Was soll denn nur aus uns werden, wenn es nicht bald regnet? Wenn es auch diesen Winter nicht genug Regen gibt?“ fragt die junge Frau den Mann, der bedächtig den Kopf schüttelt „Wenn der liebe Gott will, dass es nicht regnet, dann leben wir das“ lautet dann seine schlichte Antwort. Und sie nickt dazu. Kein Zettern, kein Jammern, kein Drama – dann leben wir auch das und machen das Beste daraus. Ikarische Resilienz in Reinkultur!

In der Praxis erleben wir die in den Tagen nach dem Sturm, der viele Schäden angerichtet hat. Ganze Weinberge wurden weggefegt, die Einrichtung des Kafenion im Hafen in Streichhölzer zerlegt, Flüge & Fähren wurden gecancelt usw. usw.  Ja, das ist schlimm, doch es sind keine Menschen zu Schaden gekommen und alles andere lässt sich richten. Weiter geht’s! Das Leben will nämlich jetzt gelebt werden, es wartet nicht, bis wir den perfekten Zeitpunkt dafür gefunden haben.

Herzliche Grüße aus dem Headquarter der Winde!

Barbara

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Hinterlasse einen Kommentar

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>